Edition TradBarock

Den neuen Begriff „TradBarock“ habe ich 2024 für ein Repertoire eingeführt, das sich als eine Art Unterseeboot stets unterhalb der Wasserlinie der höfischen Sphäre der Barockzeit bewegte. TradBarock besteht aus scheinbar einfacher traditioneller (Tanz-)Musik der Stadt- und Landbevölkerung in der Epoche des Barock, gespielt von reisenden wie sesshaften Musikern, die viele Stücke als Gedächtnisstütze in eigene und fremde Notenbücher geschrieben haben. Manchmal waren es auch Privatlehrer, die die Kinder des aufkommenden Bürgertums im Violinspiel unterrichteten und deren Notenbücher mit neuen Stücken füllten, fremden wie eigenen. Auch gab es Tanzlehrer, die einfache Melodien zu ihren kunstvollen Tanznotizen festhielten. Viele der Notenbücher aus dieser Zeit enthalten zumeist einstimmige Melodien, in der Regel ohne Basslinien oder Harmonieangaben. Es gibt auch vereinzelt Notenbücher für Tasteninstrumente und mehrstimmige Ensembles, doch diese wirst Du hier nicht finden, da sie oberhalb der Wasserlinie lagen, in vermögenden Häusern der Oberschicht gespielt wurden und häufig bereits bekannte komponierte Stücke wie z.B. beliebte Menuette und Opernmelodien enthielten. Hier jedoch interessieren die handschriftlichen Zeugnisse von Musikern, Musiklehrern, Schülerinnen und Schülern, praktizierenden AmateurInnen und Lehrlingen der Stadtmusiker, die ganz schnell lernen mussten, wie Tanzmusik geht.

Bei näherer Beschäftigung mit diesem Repertoire fällt auf, wie gross die Mobilität von Musikern bereits damals war und wie weit sich manche Melodien im 18. Jahrhundert verbreiteten. Es gab schon damals eigentliche Hits, die weitherum Anklang fanden (z.B. La Furstemberg oder das Menuet de France / La Schene). Die Stücke wurden nach Gehör gespielt, weitergegeben, abgehört und gelegentlich aufgeschrieben, manchmal auch von anderen Noten abgeschrieben, sodass die vorwiegend mündliche Tradition der Weitergabe heute noch sichtbar ist und nachgezeichnet werden kann, transportiert durch schriftliche Zeugnisse der Musiker selbst.

TradBarock ist auf dem linearen Zeitstrahl um bis zu 50 Jahre verzögert zur musikalischen Epoche des Barock zu sehen, die aus heutiger Sicht etwa mit dem Jahr 1750, dem Todesjahr von Johann Sebastian Bach, als beendet angesehen wird. TradBarock hingegen reicht sogar noch bis in die Anfangsjahre des 19. Jahrhunderts hinein, als auch in diesem angeblich ‚gesunkenen‘ Repertoire der neue Modetanz Walzer das mittlerweile als altbacken empfundene Menuett endgültig ablöste. Die „gemeine paneuropäische Menuett-Seuche“ war damit beendet, nicht aber die Faszination für Polnische Tänze, deren Tradition bis heute v.a. in Schweden gepflegt wird, inzwischen verfeinert durch die später aufkommenden Regional- und Personalstile im 19. Jahrhundert bis hin zu den zeitgenössischen Stilen.


Das Anrührende an diesen TradBarock-Stücken und den persönlichen Geschichten der damit verbundenen Menschen bzw. Musiker hat mich dazu bewogen, den Spuren der Melodien und Tänze durch viele Länder zu folgen und die m.E. interessantesten davon zu transkribieren. Es handelt sich klarerweise um eine subjektive Auswahl, die durch ebenso persönliche Kriterien geleitet wurde. Die Stücke in dieser Sammlung sind in melodischer, rhythmischer, harmonischer Hinsicht interessant und/oder haben Querbezüge zu anderen Quellen, sodass sich ein Direktvergleich der Notierungen desselben Stücks in verschiedenen Manuskripten immer lohnt. Da wir über die Begleitung der einstimmigen Melodien so gut wie nichts wissen – manchmal gab es eine zweite Geige, die im Terzabstand oder auch leere Saiten oder Akkordgriffe dazu spielte – ist immer noch offen, wie der grösste Teil dieses Repertoires bei (Tanz-)Festen begleitet wurde. Hatte die Landbevölkerung eigene (Bass-)Instrumente gebaut? Brauchte es gar keinen Bass, weil die zweite Geige in Akkorden begleitete? Hat die zweite Geige Melodie gespielt und das Hirn der Zuhörenden sich die Akkordtöne hinzugedacht? Oder gab es auch noch Perkussionsinstrumente, die den Tanzrhythmus vorgaben?

Jedes Stück der Auswahl ist in vier Versionen vorhanden:

  • Digitalisat des Originals mit Link zum Originalmanuskript, das public domain darstellt bzw. dessen Gebrauch von den Besitzenden freigegeben wurde
  • zeilengenaues Transkript des Originals, unter CreativeCommons-Lizenz frei downloadbar
  • Neufassung mit Harmonisierungsvorschlägen, eingerichtet für Violine, kann hier einzeln oder ggf. auch als Notenbuch erworben werden
  • Aufnahme der Neufassung im Sinne eines ‚klingenden Leadsheets‘ (höre, was du siehst – sehe, was Du hörst), jederzeit online anhörbar


Du kannst hier also das Original direkt anschauen, ohne es in einem u.U. verwirrenden oder schwer lesbaren Manuskript lange suchen zu müssen. Auch kannst Du hier sofort überprüfen, ob das Transkript dem Original entspricht. Das ist wichtig, weil viele, die im Internet „Abschriften“ veröffentlichen, leider diesen Schritt überspringen und beim Abschreiben gleich schon interpretieren und arrangieren, sodass Du Dir zumeist nicht sicher sein kannst, ob Du wirklich eine genaue Abschrift vor Dir hast.

Daneben kannst Du Dir eine Aufnahme der harmonisierten Neufassung anhören, um Dir vor dem Notenerwerb klar zu werden, ob Dir dieses Stück wirklich gefällt. Es handelt sich bewusst nicht um Midi-Dateien, sondern um analoge Aufnahmen. Diese sind weder Arrangements noch Playalongs, haben weder Intro noch Zwischenspiele, Variationen oder Outro. Sie sollen Dir einfach nur zeigen, wie interessant diese Stücke, die zunächst so simpel und gewöhnlich aussehen, bereits in ihrer nackten Substanz sind. Wenn Dir die Neufassung eines Stücks gefällt, dann kannst Du diese erwerben, entweder einzeln als pdf oder – viel besser – als prall gefülltes Notenheft auf Papier. Die sukzessive auf Papier erscheinenden Notenhefte enthalten nämlich nicht nur alle Noten (Original, Transkript und Neufassung), sondern auch viele historisch und musikologisch interessante Hinweise für LaiInnen wie auch für professionelle MusikerInnen oder Musikforschende.

Wenn Du ein Borduninstrument wie z.B. Drehleier oder Dudelsack spielst und TradBarock eher als Ausläufer der mittelalterlichen und Renaissancemusik ansiehst (was musikhistorisch nicht zutrifft) oder als BalFolk-Fundgrube (yes!), wirst Du gerne direkt aus dem Transkript spielen wollen. Genau dafür sind die kostenfreien CreativeCommons-Versionen auch da, die Du als PDF frei downloaden, spielen und aufführen kannst.

Wenn Du Geige spielst, kannst Du Dich auf ein reichhaltiges Repertoire freuen, das meist bequem zu spielen ist, originelle Eigenheiten aufweist und zum Tanz auffordert. Einige Stücke erfordern explizit den Tonumfang und die Technik der Geige, für die auch viele Notenbücher gedacht waren. Aber das soll Dich nicht hindern, sie z.B. mit Oboe, Block- oder Traversflöte zu spielen. In den Transkriptversionen siehst Du schon online sofort, ob das Stück für Dein Instrument geeignet ist.

Wenn Du Barockmusik liebt, aber ein modernes Instrument spielst, das es in der Barockzeit noch gar nicht gab (z.B. Saxophon oder Akkordeon) und nicht auf ähnliche, aber schwerer oder ganz anders zu spielende historische Instrumente umsatteln willst, kannst Du nun einfach TradBarock auf dem eigenen modernen Instrument vom kostengünstig downloadbaren Leadsheet spielen. Und es geht natürlich auch gut beides zusammen: Violine, Flöte oder Oboe spielen die Melodie und moderne Gitarre, Akkordeon oder Klavier begleiten frei nach Akkordsymbolen. So kannst Du Deine Liebe zum Barock mit anderen teilen, die sonst gar nicht auf die Idee gekommen wären, Barockmusik begleiten zu wollen oder die Hauptmelodie zu spielen, damit Du begleiten kannst.

Wenn Du erfahren möchtest, ob es zu einem bestimmten einzelnen Stück Konkordanzen in anderen Manuskripten gibt, kannst Du mich gerne jederzeit anschreiben, dann teile ich Dir gerne meinen Informationsstand zu einem bestimmten Stück mit. Beim Durchhören dieser Webseite wirst Du bald selbst auf einige Konkordanzen stossen und Dich fragen, wo denn nun wieder die andere Version war, die Du darin erkannt hast… Mit der Zeit wirst Du immer mehr Stücke wiedererkennen, die damals schon die Runde in Europa machten. Und wenn Du mir eine Parallelquelle mitteilen möchtest, die Du kennst oder entdeckt hast, gerne!

Wenn Du in der historischen, musikwissenschaftlichen oder musikethnologischen Forschung tätig bist und Dich in dieses Repertoire vertiefen möchtest/musst, kannst Du mich gerne anschreiben, um eine Abkürzung über meine Excel-Tabellen nehmen zu können, die bei der systematischen Erfassung Dutzender Manuskripte angelegt wurden und entlang der Entdeckung von Konkordanzen fortlaufend nachgeführt werden. Bitte begründe in Deiner Anfrage Dein Forschungsinteresse, weise Deinen wissenschaftlichen Hintergrund nach, erwähne in Deiner späteren Arbeit diese Informationsquelle und schicke mir später auch ein Belegexemplar, damit ich Deine Erkenntnisse wiederum in meine Tabellen und Texte einbauen kann, vielen Dank.

Danke für Dein Interesse und viel Spass mit TradBarock!


Carola Reetz

musikATcarolareetz.ch